Hinweis: Der Inhalt dieses Beitrags in Wort und Bild basiert auf der Faktenlage zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung (19.07.2010)
Wien, am 19.07.2010Weltkulturerbe Stierkampf und Singvogelfang? Offener Brief an die UNESCO
VGT bittet die Kultur- und Bildungsorganisation der Vereinten Nationen um Klarheit über ihre Position
Sehr geehrte Damen und Herren,
Ein Tier, welches vor johlendem Publikum zu Tode gemartert wird, mit Lanzen, Spießen, Messern so lange massakriert wird, bis es tot zusammenbricht: das ist der traurige Kern, das schlichte Wesen des Stierkampfs – ein archaischer „Brauch“ und eine „Tradition“, die viele Menschen vor ein Rätsel stellt: Wie konnte sich diese kulturelle Barbarei bis ins 21.Jahrhundert erhalten, und noch heute stetig ebenso fanatische wie einflussreiche Fürsprecher für sich gewinnen?
Es existiert reichhaltiges Dokumentations- und Anschauungsmaterial über die Realität des Stierkampfes, das sich über die letzten Jahrzehnte – ja Jahrhunderte - angesammelt hat, es gibt zahllose - darunter auch ganz aktuelle - authentische Filme, Fotos, Berichte; darüber hinaus ebenso beredte wie kompetente Zeugnisse und Stellungnahmen von WissenschaftlerInnen, PolitikerInnen, TierrechtlerInnen, AnwältInnen, TierärztInnen, AnthropologInnen, PhilosophInnen, SchriftstellerInnen, KünstlerInnen, JournalistInnen, BiologInnen, die sich nüchtern und objektiv mit dem urtümlichen Brauch auseinandergesetzt haben und auf Basis dieser sachlichen Auseinandersetzung mit dem Thema zu vehementen KritikerInnen oder zumindest SkeptikerInnen wurden.
Einführung der UNESCO-Kulturerbe Konvention 2003
Die
UNESCO hat am 29. September 2003 in Paris
bei ihrem 32. Treffen die Konvention
für den Schutz des immateriellen Kulturerbes
beschlossen.
VertreterInnen der Erhaltung des Stierkampfs
witterten bald ihre Chance, der wachsenden
Bewegung gegen den Stierkampf auf dieser
neuen Ebene entgegen zu wirken.
Schon im Jahre 2005 forderte die internationalse Stierkampforganisation „Asociación Internacional de Tauromaquia“ (AIT), dass der Stierkampf zum Weltkulturerbe erklärt wird. Dieser erste Antrag wurde abgelehnt. Seitdem arbeitet die Stierkampflobby, die sich inzwischen weltweit zusammengeschlossen hat, intensiv an dem Projekt “Proyecto Tauromaquia de la UNESCO”, um zu erreichen, dass der Stierkampf als Immaterielles Kulturerbe unter den Schutz der UNESCO gestellt werde.
Spanische Stierkampforganisation bereitet Antrag für UNESCO vor
Ein weiterer Anlauf erfolgte im Herbst vorigen Jahres. Im Oktober 2009 hat die spanische Stierkampforganisation „Mesa del Toro“ offiziell die andalusische Regionalregierung ersucht, mit anderen spanischen autonomen Regionen zusammen die spanische Regierung aufzufordern, die notwendigen Schritte einzuleiten, um den Stierkampf durch die UNESCO als immaterielles Weltkulturerbe schützen zu lassen. Die französische Stierkampf-Webseite „Terres Taurines“ berichtete, dass in Frankreich und in sechs weiteren Stierkampfländern ebenfalls die Regierungen aufgefordert werden sollen, den Antrag bei der UNESCO zu stellen.
Nachdem die autonome Gemeinschaft Madrid - die Region Madrid also - den Stierkampf zum “Bien de Interes Cultural”, zum regionalen Kulturerbe erklären lassen wollte, haben kurz darauf auch andere Autonomien Spaniens - Murcia, Valencia, Andalusien und Navarra - ähnliche Pläne verkündet.
Französische Stierkampfstädte kündigen Antrag für UNESCO-Weltkulturerbe an
Im Dezember 2009 beschloss die „Generalversammlung der französischen Stierkampfstädte“, Maßnahmen ergreifen zu wollen, um den Stierkampf von der UNESCO zum immateriellen Kulturerbe erklären zu lassen. Der Verband wollte sich damit auch der Kampagne von sieben weiteren Stierkampf-Ländern anschließen, um "die Stierkampf-Kultur gegenüber allen Angriffen im Namen so genannter "Tierrechte", die von keiner internationalen Instanz und besonders nicht von der UNESCO anerkannt werden, zu schützen".
An dieser Argumentation der Stierkampflobbyisten erkennt man ein mal mehr deutlich, wie wichtig rechtsethisch und rechtsphilosophisch fundierte, rechtsstaatlich verbriefte bzw. institutionalisierte und international ratifizierte Rechte der Tiere als grundlegendes, rechtlich-formales Konzept und juristischer Schutzschirm gegen überkommene, destruktiv-anachronistische „Traditionen“ und „Gebräuche“ wie Stierkampf oder Singvogelfang sind.
So, wie es im gesellschaftlich-sozialen, zwischenmenschlichen Bereich im Zuge von Zivilisation und Fortschritt im Lauf der Geschichte zu einer kontinuierlichen Reduktion von Gewalt im menschlichen Zusammenleben kommen sollte, ist auch im Zusammenleben mit den Tieren eine stete Reduzierung und Minimierung von allgemeiner und struktureller Gewalt eine unverzichtbare zivilisatorische Prämisse im Sinne von gesellschaftspolitischer Modernisierung und ethisch-kulturellem Fortschritt der Gesellschaft.
Würden Sie diesem ethisch-zivilisatorischen Grundprinzip und Fortschrittsgedanken zustimmen?
Die
Stierkampflobby hat sich mittlerweile
in einer internationalen Organisation,
der erwähnten „Asociacion Internacional
de Tauromaquia“, weltweit zusammengeschlossen:
Spanien, Frankreich, Portugal, Mexiko,
Kolumbien, Peru, Venezuela und Ecuador
arbeiten gemeinsam und geradezu fieberhaft
an der Verwirklichung ihres UNESCO-Projekts.
Nicht nur, dass der Stierkampf per Gesetz
erhalten werden soll – „Angriffe“ in
Form von Kritik daran beziehungsweise
Agitation gegen das „kulturelle Erbe“
Tauromachie könnten mit Stierkampf im
UNESCO-Welterbe-Rang sogar empfindlich
sanktioniert werden. Dies könnte dazu
führen, dass diejenigen, die sich gegen
den Stierkampf engagieren, z.B. in Form
von bislang vollkommen legalen Protesten
und Kundgebungen vor Stierkampfarenen,
deren Ziel die Abschaffung derselben
ist, ein „Vergehen gegen das historische
Erbe“ bzw. einen rechtlichen Verstoß
gegen ein von Seiten der UNESCO unter
Schutz stehendes „Kulturgut“ begehen,
welches mit empfindlichen Geld- bis hin
zu Haftstrafen belangt werden könnte.
Welche Meinung vertritt die UNESCO im Hinblick auf die Meinungsfreiheit, wenn es um die Kritik an tierquälerischen Praktiken und Vorgängen geht, zu denen zweifelsohne auch die Corrida zählt? Würde die UNESCO oder andere Organisationen der Vereinten Nationen einer Instrumentalisierung der Weltkulturerbe Listen für die Unterdrückung von Tier- und Umweltschutzorganisationen und –AktivistInnen entgegentreten und wenn ja, welche Vorkehrungen sind vorgesehen, damit ein derartiger Missbrauch ausgeschlossen wird?
Unvereinbarkeit mit Grundideen der UNESCO
Wie
absurd die Bestrebungen, die Tauromachie
als immaterielles kulturelles Erbe
der Welt zu verankern, sind, zeigt auch
ein
Blick hinter die Ideen und Leitgedanken
der UNESCO.
Zu den Aufgabengebieten der UNESCO
gehört gemäß Selbstdefinition die Förderung
von Erziehung, Wissenschaft und Kultur
sowie Kommunikation und Information,
aber sicherlich nicht die Erziehung
zu
gewalttätiger Verrohung, Brutalität
und Gewissenlosigkeit oder die Förderung
mittelalterlich-archaischer kultureller
Relikte, die an barbarischer Grausamkeit
kaum zu überbieten sind.
Wie können aus Ihrer Sicht tierverachtende
Praktiken wie Stierkampf oder Singvogelfang
– letzterer wurde im Rahmen der sogenannten
nationalen Liste für „immaterielles
Kulturerbe in Österreich“ vor wenigen
Monaten von
Ihnen bereits zum Kulturerbe erhoben
– mit diesen hehren Grundideen und
Zielen der UNESCO vereinbar sein?
Grundidee der UNESCO-Welterbekonvention ist die “Erwägung, dass Teile des Kultur- oder Naturerbes von außergewöhnlicher Bedeutung sind und daher als Bestandteil des Welterbes der ganzen Menschheit erhalten werden müssen.” Die Unterstützung der finanziellen Interessen der Stierkampflobby und die damit verbundenen Misshandlungen von leidensfähigen Tieren („sentient beings“, als welche letztere etwa auch durch die Europäische Union anerkannt werden und in Artikel 13 des EU-Vertrags von Lissabon offiziell eine Aufwertung erfuhren) scheint jedenfalls schwerlich mit der Leitidee der Vereinten Nationen und ihrer Kulturförderungspolitik vereinbar. Würden Sie dem zustimmen?
Laut
Verfassung der UNESCO vom November 1945
sei es Ziel der UNESCO, durch „Förderung
der internationalen Zusammenarbeit in
den Bereichen Bildung, Wissenschaft,
Kultur und Kommunikation [respektive]
Information zur Wahrung des Friedens
und der Sicherheit beizutragen“. Denn
– wie es eben dort treffend formuliert
steht - „ein ausschließlich auf politischen
und wirtschaftlichen Abmachungen von
Regierungen beruhender Friede kann die
einmütige, dauernde und aufrichtige Zustimmung
der Völker der Welt nicht finden. Friede
muss – wenn er nicht scheitern soll –
in der geistigen und moralischen Solidarität
der Menschheit verankert werden.“ (Verfassung
der UNESCO, 16. November 1945)
Glauben Sie nicht, das diese „geistige
und moralische Solidarität“, dieser Friede
keinesfalls vor unseren Mitgeschöpfen
beziehungsweise nichtmenschlichen Mitgliedern
unserer Zivilisation und Gesellschaft
halt machen sollte?
Doch nicht nur ein tierrechtliches, auch ein menschenrechtliches Problem haben wir im Stierkampf vor uns. Er ist sowohl für Mensch als auch für Tier in jeder Hinsicht unverantwortlich, grausam und äußerst gefährlich.
Erst vor kurzem sorgten erschütternde Bilder international für Schlagzeilen, nachdem eine Reihe von Stierkämpfern von Kampfstieren in der Arena Coram publico schwerst verletzt und beinahe getötet wurden – in einem Fall wurde ein Torrero vom Horn des Stiers quer durch den Unterkiefer regelrecht gepfählt, nur mit Glück überlebte er die brutale Verletzung.
Können
derartig schauerliche Relikte und Überbleibsel
der Gladiatorenspiele tatsächlich im
Interesse der UNESCO und ihrer Mission
zur Verbreitung von Frieden und kultureller
Erziehung sein und allen Ernstes als
„immaterielles, erhaltenswürdiges Kulturerbe
der Menschheit“ einen besonderen Schutz
und das Wohlwollen einer der bedeutendsten
internationalen Kulturorganisationen
der Welt genießen?
Für Sie als internationale Organisation
der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft
und Kultur sollte es ein vorrangiges
Anliegen, ja eine Selbstverständlichkeit
sein, jetzt dazu beizutragen, dass nicht
eine anachronistische Barbarei und ein
ästhetisch verklärtes, kulturell verbrämtes
Blutbad und Gemetzel zum Weltkulturerbe
der Menschheit erklärt und geadelt wird
und damit als „schützenswertes Kulturgut“
auf sehr lange, nicht abschätzbare Zeit
– ja vielleicht auf ewig - festgeschrieben
wird.
Erst im März dieses Jahres hat die Österreichische UNESCO-Kommision (ÖUK) Befremdung und Entrüstung damit hervorgerufen, als sie bekannt gab, dass der Singvogelfang im Salzkammergut zum „immateriellen Kulturerbe“ erklärt werde. Da (von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen) der Vogelfang in ganz Europa aus Tier- und Naturschutzgründen verboten ist, wäre es interessant zu erfahren, wieso die UNESCO hier diese positive Zeittendenz zum Tier- und Naturschutz in so unverständlicherweise konterkariert. Was waren die Motive, den von ZoologInnen, VerhaltensforscherInnen und VeterinärwissenschafterInnen als tierquälerisch bezeichneten Singvogelfang zum regionalen (Welt)Kulturerbe zu erheben?
Die UNESCO ist eine der einflussreichsten und wichtigsten internationalen Organisationen im Bereich der Bildung, Erziehung und Kultur und federführende Institution der Vereinten Nationen in diesem Sektor. Dementsprechend groß ist aber auch Ihre Verantwortung, sowie auch das Bedürfnis der Bevölkerung nach klaren Positionen Ihrerseits und nach transparenter Kommunizierung dieser Ihrer Linie.
Bitte klären Sie uns auf, ob Sie den grausamen Tod künftiger Generationen von Kampfstieren oder andere „Tierqualtraditionen“ vermittelst Ihrer Kulturerbe-Politik mit tragen und mit verantworten wollen, oder ob Sie den ethischen Argumenten der Tierschutz- und Tierrechtsbewegung doch etwas abgewinnen können.
In Erwartung Ihrer geschätzten Antwort,
Hochachtungsvoll,
Ralph Chaloupek, Verein gegen Tierfabriken,
Wien