Hinweis: Der Inhalt dieses Beitrags in Wort und Bild basiert auf der Faktenlage zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung (06.04.2023)
Tirol, am 06.04.2023"Ins Blaue schießen verschärft das Problem"
Datenlage zeigt: Herdenschutz wirkt, Griff zur Waffe hingegen kaum
Die am 1. April in Kraft getretene Verordnung zur "Legalisierung" von Wolfstötungen ist - gemessen an wissenschaftlich belegbaren Fakten - ein Schuss ins Blaue und zeugt von einer Kultur der Entscheidungsfindung, die mehr mit Storytelling als mit faktenbasierten Überlegungen zu tun hat.
Weidetiere schützen geht anders: Dass Wolfsabschüsse von gewissen Entscheidungsträger:innen als einzig mögliche Universallösung propagiert werden, sorgt in Fachkreisen - gelinde gesagt - für Kopfschütteln. Beutegreifer-Kontrolle mit dem Gewehr ist nämlich umstritten, die Datenlage uneindeutig. Vorhandene Forschungsergebnisse deuten eher darauf hin, dass der Griff zur Waffe sinnlos bis kontraproduktiv ist.
Wie eine US-Studie1 mit Daten aus 25 Jahren zeigt, führen Abschüsse eher zu einer Verschärfung der Probleme: Mit jedem getöteten Wolf werden im Folgejahr deutlich mehr "Nutz"tiere Opfer von Wolfsrissen, berichten die Forschenden. Bereits ein einziger Abschuss hat zur Folge, dass im darauffolgenden Jahr 4 Prozent mehr Schafe und 5-6 Prozent mehr Rinder gerissen werden. Wenn zwanzig Wölfe getötet werden, verdoppelt sich die Verlustrate unter den Weidetieren sogar. Auch eine 2016 erschienene Studie2 im Fachjournal "Frontiers in Ecology and the Environment" zieht auf Basis einer internationalen Datengrundlage ähnliche Schlüsse: Der Griff zum Gewehr führt demnach zu mehr Schäden an den Weidetieren als gewaltfreie Maßnahmen wie Herdenschutz. Bei nicht-tödlichen Vorgehensweisen gegen Beutegreifer werden bis zu 80 Prozent weniger "Nutz"tiere gerissen.
Deutlich besser durch Forschungsergebnisse gestützt ist hingegen die Effektivität von Herdenschutzmaßnahmen. In dieser Hinsicht gibt es einen breiten wissenschaftlichen Konsens. So zeigen beispielsweise aktuelle Studienresultate3 aus der Schweiz, dass auf Almen mit Herdenschutzmaßen weitaus weniger Schafe gerissen wurden. Dies war besonders dann der Fall, wenn Herdenschutzhunde im Einsatz waren. Keinen eindeutigen Zusammenhang fanden die Forschenden zwischen der lokalen Wolfsdichte im Sinne einer Rudelbildung vs. der Anwesenheit von Einzelwölfen und dem Schadensausmaß. Dies könnte daran liegen, dass Herdenschutz besser planbar wird, wenn Rudel über mehrere Jahre im selben Gebiet präsent sind. Eine weitere mögliche Erklärung ist, dass etablierte Wolfsrudel eine gute Kenntnis der Verteilung und Gewohnheiten ihrer wildlebenden Beutetiere haben, diese in der Folge effizienter jagen können und somit weniger auf Weidetiere abzielen.
Ungleich verteilte Risiken
Auch die Art des Terrains schien einen Einfluss zu haben. Auf großen Sömmerungsgebieten in zerklüftetem Gelände kam es am ehesten zu Angriffen auf Almtiere. Doch auch in solchen Gebieten konnten Herdenschutzhunde die Probleme reduzieren. Umgekehrt zeigte sich aber auch, dass die Schweizer Weidetiere mehrheitlich verschont blieben: So kam es in 83% aller untersuchten Alpjahre zu keinerlei Schäden, und zwar trotz Wolfspräsenz und ohne Herdenschutzhunde. Dennoch ist Herdenschutz relevant: Generell ließ sich beobachten, dass sich Wolfsangriffe von Weiden mit Herdenschutz-Intervention auf Weiden ohne Herdenschutz oder mit ungenügenden Maßnahmen verlagerten. "Zu Übergriffen durch Wölfe auf geschützte Herden kommt es oftmals in sogenannten «ungeschützten Situationen», also in Situationen, wo die Umsetzung von Herdenschutzmaßnahmen nicht einwandfrei funktioniert hat (z.B. bei unzureichender Umzäunung, einzelnen Schafen außerhalb des Nachtpferchs, sehr ungünstigen Wetterbedingungen, Einsatz von unerfahrenen Hunden oder wenn Herden auf zu grosser Fläche verteilt sind)."4
Abschüsse hingegen erwiesen sich den Schweizer Fachleuten zufolge höchstens als kurz- bis mittelfristig wirksame Methode zur Eindämmung des Rissgeschehens. Ein Jahr nach vollzogenen Abschussbewilligungen kam es zwar zu keinen Wolfsangriffen. Allerdings kam es auch bei nicht vollzogenen Abschüssen zu einer Rissreduktion im Folgejahr, obwohl die Herdenschutzmaßnahmen nicht unbedingt verstärkt wurden. Entweder waren die betreffenden Wölfe nachweislich abgewandert oder auf ungeklärte Weise verschwunden. "Insbesondere bei transienten Wölfen ist es also möglich, dass der schadenstiftende Wolf nach kurzer Zeit von selbst aus dem Gebiet verschwindet." Abschüsse von Einzelwölfen, so die Studienautor:innen, könnten sich zukünftig sogar als noch kurzfristiger wirksam erweisen, "da durch die wachsende Wolfspopulation in der Schweiz mehr abwandernde Jungwölfe unterwegs sind, die ein leeres Gebiet rascher wieder besetzen können. In gesättigten Großraubtierpopulationen können Abschüsse von residenten Tieren sogar zu einer vermehrten Einwanderung von Jungtieren auf der Suche nach einem eigenen Territorium führen."5
All diese Erkenntnisse scheinen durchaus auch auf Tirol übertragbar zu sein. Abzuleiten wäre jedenfalls die Notwendigkeit von möglichst flächendeckenden Herdenschutzmaßnahmen. Vor diesem Hintergrund wirken die politischen Entscheidungen in Tirol umso fragwürdiger.
VGT Tirol Kampagnenleiterin Nicole Staudenherz meint dazu: Während sich die Regierenden selbst feiern, bleiben viele Fragen offen. Wie stellen sich die Verantwortlichen die genaue Umsetzung ihrer Schießgewehr-Strategie vor? Wird man weiterhin auf Herdenschutz verzichten, tote Schafe zählen und dann als so genannte Lösung ins Blaue schießen?
Nicole Staudenherz weiter: Es bleibt zu hoffen, dass die Tiroler Schafhalter:innen bald durchschauen, wie sie von ihren gewählten Volksvertreter:innen und ihren Branchenvertretungen mit Scheinlösungen abgespeist werden. Wenn die Entscheidungsträger:innen es mit ihrer Liebe zu den Bauernfamilien wirklich ernst meinen, dann sollten sie schnellstmöglich echte Verantwortung übernehmen und die Tierhalter:innen bei der Umsetzung von Herdenschutzmaßnahmen (ausreichend) finanziell und organisatorisch unterstützen.
(1)Wielgus R. et al. (2014): „Effects of wolf mortality on livestock depredations”. In: PLoS ONE 9(12).
(2) Treves A. et al. (2016): "Predator control should not be a shot in the dark". In: Frontiers in Ecology and the Environment Vol. 14/7. 380-388.
(3) Vogt K. et al. (2022): Wirksamkeit von Herdenschutzmaßnahmen und Wolfsabschüssen unter Berücksichtigung räumlicher und biologischer Faktoren. Bericht in Zusammenarbeit mit AGRIDEA. KORA Bericht Nr. 105
(4) ebd.
(5) ebd.