Hinweis: Der Inhalt dieses Beitrags in Wort und Bild basiert auf der Faktenlage zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung (23.12.2011)
Wien, am 23.12.2011Was bedeutet die Einigung zum Kastenstandverbot?
Für den VGT geht eine weitere intensive Kampagne erfolgreich zu Ende – wenn auch mit Wermutstropfen
Was hatte der VGT für unfassbare Kampagnenerfolge vor der Polizeirepression: 1998 das Pelzfarmverbot, 2002 das Verbot von Wildtieren im Zirkus, 2004 das Verbot von Legebatterien, 2005 die Verhinderung Singvogelfang wieder zu erlauben, 2006 das Verbot von Tierversuchen an Menschenaffen und 2007 ein Käfigverbot für Kaninchen zur Fleischproduktion. Unsere Kampagne gegen Kastenstände hat 2006 mit der Präsentation einer Großrecherche in 125 Schweinefabriken Österreichs begonnen. In den Folgejahren informierten wir die Bevölkerung über das Leid der Schweine in den Tierfabriken und erreichten, dass die meisten Menschen darüber informiert waren und unser Anliegen teilten. Jetzt galt es, mit dieser Mehrheit auch ein Verbot zu erzielen.
Doch die Polizeirepression machte uns einen Strich durch die Rechnung. Von Mai 2008 bis Anfang Mai 2011 wurden wir durch die Tierschutzcausa und den Tierschutzprozess effektiv daran gehindert, die Kampagne schlagkräftig fortzusetzen. Allerdings, bereits am Tag nach dem Freispruch verbrachte der VGT-Obmann 24 Stunden im Zentrum Wiens in einem Kastenstand. Ähnliche Aktionen in Graz und Linz folgten. Wir brachten uns sehr intensiv in die Diskussion ein, organisierten breite Podiumsdiskussionen mit allen beteiligten Interessensvertretungen und zeigten auf, wie wir uns eine demokratische Entscheidung vorstellten. Selbst den international wichtigsten Experten zur Schweinehaltung, Prof. Bo Algers aus Schweden, luden wir nach Wien und brachten ihn mit dem Landwirtschaftsministerium in Kontakt. Als dieses Ministerium aber erkannte, dass ihm die Argumente ausgingen, begann es, uns aus dem Entscheidungsprozess auszuschließen. Die Schweineindustrielobby drohte sich durchzusetzen.
Ende Juli war der VGT-Obmann noch auf Einladung von Tierschutzminister Stöger bei der ersten Verhandlungsrunde dabei, doch kurz darauf zeigte die Agrarindustrie ihr undemokratisches Gesicht. Nur Schweineindustrie und Landwirtschaftskammer sollten mitreden dürfen, der Tierschutz wurde ausgegrenzt und man versuchte, uns als „radikal“ und „extremistisch“ zu diffamieren. Doch auch ohne uns stockten die Verhandlungen. Ende Juli erklärte sich die Schweineindustrie zwar bereit, die Kastenstandzeit im Deckstall zu reduzieren, aber der Abferkelbereich wurde zum Diskussionstabu erklärt. Landwirtschaftsminister Berlakovich begann seine totale Blockadepolitik.
Mitte September riss uns vom VGT der Geduldsfaden und wir blockierten kurzerhand das Landwirtschaftsministerium über 30 Stunden lang. Ab dann gab es von engagierten TierschützerInnen bei jedem Auftritt des Landwirtschaftsministers Aktionen, um auf die Blockadepolitik von Berlakovich aufmerksam zu machen. Schließlich hielt Berlakovich alle seine öffentlichen Auftritte im Vorfeld geheim. Es kam zu weiteren Besetzungs- und Blockadeaktionen gegen Landwirtschaftskammern und ÖVP-Zentralen in Wien, St. Pölten, Linz, Graz, Innsbruck und Salzburg. Am 20. Dezember lenkte die Schweineindustrie bei einer 20 stündigen Verhandlungsrunde endlich ein und zeigte sich bereit, auch den Kastenstand im Abferkelbereich zu diskutieren. Schließlich wurde eine Einigung gefunden, die Tierschutzminister Stöger auch mit dem VGT-Obmann besprach, bevor sie der Öffentlichkeit präsentiert wurde.
Das Ergebnis sieht so aus:
Deckstall ist jener Bereich einer Schweinefabrik, in dem die Muttertiere während der Befruchtung und der Schwangerschaft bis 1 Woche vor der Geburt gehalten werden. Pro Zyklus verbringen die Mutterschweine rund 115 Tage im Deckstall.
- Bisher: Von 115 Tagen werden die Mutterschweine 115 Tage im Kastenstand gehalten.
- EU-Verordnung: ab 2013 dürfen die Mutterschweine nur mehr 35 dieser 115 Tage im Kastenstand gehalten werden.
- Neue Regelung: ab 2013 dürfen die Mutterschweine nur mehr 10 dieser 115 Tage im Kastenstand gehalten werden. Für jene Betriebe, die sich bereits baulich an die EU-Verordnung angepasst haben und die erst umbauen müssten, um die neue Regelung einzuhalten (laut Tierschutzminister 5-10% der Betriebe), gilt die EU-Verordnung bis 2033 und erst ab dann die 10-Tage-Regelung.
- Aufs Jahr gerechnet stehen die Mutterschweine 280 Tage im Deckstall:
- Bisher: davon 280 Tage im Kastenstand
- EU-Verordnung: ab 2013 davon 85 Tage im Kastenstand
- Neue Regelung: ab 2013 davon 24 Tage im Kastenstand (wenn Umbau nötig erst ab 2033)
Abferkelstall ist jener Bereich einer Schweinefabrik, in dem die Muttertiere eine Woche vor der Geburt und die gesamte Zeit während des Säugens gehalten werden. In Österreich sind das 35 Tage pro Zyklus bzw. 85 Tage im Jahr.
Die Agrarindustrie hat argumentiert, dass die freie Buchtenhaltung in der Schweiz für die Schweiz gut sei, und die freie Buchtenhaltung in Schweden für Schweden, dass aber österreichische Schweine ein freies Buchtenhaltungssystem für Österreich brauchen würden. Dieses solle von einer Fachstelle bis Ende 2017 ausgearbeitet werden. Diese Fachstelle wird Anfang 2012 eingerichtet und mit einem entsprechenden Budget ausgestattet. Vorgabe: Es soll ein für Österreich praktikables System der Mutterschweinehaltung im Abferkelbereich entwickelt werden, das folgenden Mindestanforderungen genügt:
- Mindestens 5,5 m² Buchtenfläche statt bisher 4 m²
- Kastenstandhaltung für das Muttertier maximal in der kritischen Lebensphase der Saugferkeln, wird i.a. mit 3-5 Tagen nach der Geburt angesetzt
Wenn diese Fachstelle bis Ende 2017 ein solches Haltungssystem findet, dann soll es „unverzüglich“ in einer Verordnung vorgeschrieben werden und spätestens 1 Jahr danach, also etwa 2019, für alle Neu- und Umbauten verpflichtend vorgeschrieben sein. Ab dem 1. Jänner 2033 ist dann dieses neue Haltungssystem für alle Schweinebetriebe verpflichtend. Sollte die Fachstelle kein solches System in der vorgegebenen Zeit finden, dann gilt jedenfalls ab 2033 obige Mindestanforderung von 5,5 m² Buchtenfläche und Kastenstandhaltung maximal 5 Tage nach der Geburt. Für den Abferkelstall gilt also folgendes:
- Bisher: Von 35 Tagen werden die Mutterschweine 35 Tage im Kastenstand gehalten.
- EU-Verordnung: betrifft Abferkelbereich nicht, also ebenfalls 35 Tage Kastenstand.
- Neue Regelung: Ab 2019 für Neu- Und Umbauten, ab 2033 für alle, gilt die Einschränkung der Kastenstandhaltung für Muttertiere auf 5 Tage.
- Aufs Jahr gerechnet: Von 85 Tagen im Abferkelstall pro Jahr stehen die Muttertiere sowohl bisher als auch nach der EU-Verordnung 85 Tage im Kastenstand, nach der neuen Regelung spätestens ab 2033 nur mehr 12 Tage.
Insgesamt ergibt sich also übers Jahr gerechnet für die Zeit der Muttertiere im Kastenstand:
- Bisher: 365 Tage Kastenstand pro Jahr.
- EU-Verordnung: ab 2013 insgesamt 170 Tage pro Jahr, also etwa 6 Monate.
- Neue Regelung: ab 2013 insgesamt 109 Tage bzw. 3 ½ Monate pro Jahr, ab 2033 insgesamt 36 Tage oder 1 ¼ Monate pro Jahr.
Ausnahme: Schweinezuchtbetriebe mit 10 oder weniger Muttertieren dürfen ohne Ablaufdatum ihre Schweine lebenslang ohne Unterbrechung im Kastenstand halten!
Der VGT anerkennt, dass diese neue Regelung ein gewaltiger Fortschritt in die richtige Richtung ist, wenn auch die Übergangsfrist geradezu absurd erscheint. Bei einer derartig langsamen Entwicklung im Tierschutz müssen wir noch 200 Jahre warten, bis Tierfabriken endlich abgeschafft sind. Wir können nur auf die nächsten Generationen hoffen, den Prozess gewaltig zu beschleunigen.
Andererseits bittet der VGT die Volksanwaltschaft, die neue Regelung nichtsdestotrotz durch eine Verfassungsklage überprüfen zu lassen. Zumindest die lange Übergangsfrist und die Ausnahme für Schweinezuchtbetriebe mit 10 oder weniger Muttertieren widersprechen eindeutig der im Tierschutzgesetz vorgeschriebenen allgemeinen Ansprüche an die Haltung von Tieren.